Eine ergreifende Ehrlichkeit!


■ Kürzlich während einer Zugfahrt wurde ich Zeuge einer solchen ungewöhnlichen Ehrlichkeit eines Menschen, dass man dann davon sowohl sehr ergriffen als auch zur ernsthaften Nachdenklichkeit bewogen wird.
Unser ICE-Zug war zunächst bis auf die Minute pünktlich unterwegs. An einem bestimmten Bahnhof blieb er dann aber plötzlich etwas länger stehen. Der Oberschaffner, der Zugführer, teilte durch die Lautsprechanlage allen Fahrgästen mit, sie hätten irgendein Problem mit den Türen, die sich nicht schließen ließen, weswegen sich die Weiterfahrt des Zuges um ca. 10 Minuten verzögern würde. Zehn Minuten später ging es dann tatsächlich weiter.
Nach einer Weile meldete sich im Lautsprecher plötzlich der Lokführer, was ja ziemlich ungewöhnlich ist. Er teilte allen Fahrgästen mit, dass er persönlich die entstandene Verspätung zu verantworten habe, weil er (offensichtlich während des betreffenden letzten Halts am Bahnhof) …ein Buch gelesen und somit eben die Zeit vergessen habe!
Dass es so etwas gibt! - Alle fingen an zu schmunzeln. Aber der gute Mann bat dann bei allen Fahrgästen auch noch großherzig ausdrücklich „um Verzeihung“ für die von ihm verursachte Verspätung und fügte hinzu, er werde nun versuchen, die entstandene Verspätung aufzuholen. Bis zum nächsten Halt in ca. 30 Minuten holte er dann tatsächlich einige Minuten auf.
Tiefer Respekt dem guten Mann – heutzutage ist eine solche Ehrlichkeit leider selten anzutreffen! Wissen wir ja zunächst und vor allem von uns selbst, dass es dem Menschen immer unangenehm ist, wenn irgendein Fehler von uns oder ein Fehlverhalten anderen Menschen bekannt wird. Wenn es aber publik wird, verspüren wir dann die starke Versuchung, es möglichst nicht zugeben zu wollen.
So streitet dann der eine seine betreffende Untat trotz deren Offenkundigkeit hartnäckig ab. Hauptsache für ihn, nichts zuzugeben, egal wie es aussähe. Der andere sucht aber künstlich nach Erklärungen, um die Schwere seines Vergehens doch als stark abgemildert erscheinen zu lassen. Der dritte erfindet dagegen einen Sachverhalt, der komplett aus dem Bereich der Phantasie ist, und stellt damit den eigentlichen Sachverhalt komplett anders dar.
Dem vierten fällt aber nicht anderes ein, als die Verantwortung und Schuld für sein offenkundiges Vergehen möglichst auf eine andere und weniger schuldige Person abzuwälzen. So geschieht es oft, wenn man z.B. selbst mit einem Problem anfängt (eben ursächlich!) und somit einen anderen Menschen erst zu einer Art von Gegenreaktion provoziert und sich dann eben scheinheilig reinzuwaschen versucht, indem nämlich diesem anderen Menschen die volle Verantwortung zugeschoben werde.
Uns, den Fahrgästen im jenem Zug, wurde durch den betreffenden Zugführer mitgeteilt, es gäbe ein Problem mit den Türen, weswegen es also zur Zugverspätung komme. Somit hat er offensichtlich eine Geschichte erfunden, um nur nicht seinen Lokführer bloßstellen zu müssen. Die Situation verlangte ja von ihm, den Fahrgästen eine entsprechende Erklärung abzugeben. So sagte er etwas, was keiner der Fahrgäste überprüfen konnte und was für sie sehr glaubwürdig klang.
Der Lokführer hätte sich aus seiner eigenen Sicht mit einer solchen sehr plausibel klingenden „diplomatischen“ Erklärung sehr wohl zufrieden geben können – die allermeisten hätten es an seiner Stelle wohl dabei belassen. Sie würden sich dann wahrscheinlich auch damit trösten, dass sie ja selbst nichts Unwahres gesagt haben, und würden dem Zugführer ein Dankeschön sagen, dass er ihnen sozusagen kollegial-brüderlich aus der Patsche half.
Der Lokführer gab sich aber damit nicht zufrieden! Offensichtlich zwang ihn sein großer menschlicher Anstand bzw. sein weit überdurchschnittlicher Gerechtigkeitssinn dazu, selbst die Initiative zu ergreifen und allen ganz freimütig und mit unverhüllter Ehrlichkeit den wahren und eigentlichen Sachverhalt zu schildern. Offensichtlich konnte er es nicht hinnehmen, dass seine Verantwortung für die betreffende Zugverspätung, wenn es sich da auch nur um relativ gesehen sehr harmlose 10 Minuten handelte, verborgen werde bzw. die Fahrgäste stattdessen mit einer offensichtlich künstlichen Geschichte abgespeist werden.
Die Großartigkeit dieser Ehrlichkeit wird auch noch dadurch unterstrichen, dass durch seine Bekanntgabe seines Fehlverhaltens davon eventuell auch seine Vorgesetzten erfahren und ihn dann auch entsprechend maßregeln könnten. Denn man darf wohl vermuten, dass die Chefs der Deutschen Bahn es auf keinen Fall gern sehen, wenn ihre Lokführer bei der Arbeit Bücher lesen, wenn auch nur während der Zwischenstopps an Bahnhöfen!
Ja, man zieht den Hut vor diesem Mann wegen seines ergreifenden Anstandes bzw. würde ihm gern die Hand drücken, würde man ihm begegnen!
■ Eine analoge Geschichte zu demselben Thema. Es gab zwei Brüder, die für ihre Verwandten und Freunde ein Fest ausrichteten. Der ältere Bruder hatte die Gesamtorganisation des großen Festes in der Hand. Zu seinen Pflichten gehörte u.a. auch der Einkauf der Lebensmittel. Der jüngere Bruder war der Chefkoch bei diesem Fest. Zu seinen Pflichten gehört speziell auch die ganz genaue Überprüfung der Lebensmittel vor deren Zubereitung.
Nun kamen alle Festgäste an und das Fest startete. Beim Servieren des Hauptgerichts stellte sich aber heraus, dass das Fleisch verdorben war! Somit wurde allen Gästen das Fest verständlicherweise ziemlich verdorben – sicher war das für sie eine große Enttäuschung (die sie aber in ihrem Grundanstand nicht nach außen zeigten). Aber man kann sich sehr wohl denken, was in ihnen vorging.
Natürlich war das auch für die beiden Brüder eine Riesen-Blamage! Beide hatten daran Schuld – der ältere Bruder vertraute zu sehr dem jüngeren und überprüfte das Fleisch nicht auch noch unmittelbar vor dessen Zubereitung persönlich. Der jüngere Bruder versäumte seine Pflichten aber noch stärker, da er doch anscheinend zu leichtsinnig mit seiner direkten Pflicht der Lebensmittelüberprüfung vor deren Zubereitung umging.
Nun aber geht der ältere Bruder hin und sagt allen Festgästen in seinem Anstand, dass er die volle Verantwortung für das Malheur mit dem Fleisch bzw. für den Ausfall der Fleischspeisen und somit des Hautgerichts trage, alle Gäste mögen ihm das doch bitte aufrichtig verzeihen! Da es aber neben dem Fleisch auch noch andere Speisen gab, ging das Fest halbwegs regulär weiter.
Während des Festes trafen sich dann die beiden Brüder zusammen mit ihrem Vater und einem der Köche etwas abseits der Gäste. Der betreffende Hilfskoch hatte zwar in der Küche vernommen, dass der ältere Bruder eine Erklärung an alle abgegeben hatte, verstand aber deren Wortlaut wegen des Lärms in der Küche nicht genau.
So fragte er nun in der kleinen Gruppe, was da denn genau gesagt worden sei. Der jüngere der Brüder berichtete ihm entsprechend …und schwieg darüber hinaus. Der Hilfskoch reagierte aber emotional und fragte in seinem Anstand, warum denn ausgerechnet der ältere Bruder die (ganze) Schuld auf sich nehme. Denn eigentlich trügen ja sie in der Küche die Hauptverantwortung dafür! Und erst da hieß es aus dem Mund des jüngeren Bruders irgendwie verlegen: „Es tut mir leid“.
Es war klar, dass dies angesichts der entstandenen Situation keinesfalls als eine echte und grundehrliche Entschuldigung gewertet werden konnte. Denn da wurde nur so viel gesagt, wie gerade nötig, und so wenig, wie nur irgendwie möglich. Zudem kam diese „Entschuldigung“ nicht aus eigenem Antrieb, sondern erst dann, als der Hilfskoch von sich aus die Sache ansprach bzw. den Leuten in der Küche die eigentliche Verantwortung dafür zusprach. Wäre diese Sache vom Hilfskoch nicht angesprochen worden und dann auch noch in der Gegenwart des Vaters, hätte der jüngere Bruder wohl komplett geschwiegen und somit an seinen älteren Bruder wohl kein einziges Wort irgendeiner Schuldeingeständnis bzw. irgendeiner (fadenscheinigen) Entschuldigung gerichtet.
Zu einem wesentlichen Teil dieser Geschichte gehört auch, dass bei der nächsten Ausrichtung eines analogen Festes einer der Festgäste zwischendurch mal dem älteren der beiden Brüder gegenüber ziemlich anerkennend bemerkte, dieses Mal wäre das Fleisch in Ordnung. Offensichtlich müsse er immer lieber selbst alles genau nachprüfen, damit es stimme. Es war klar, dass dieser Gast die Situation von vorher genau verstand bzw. die Verantwortungszuordnungen zwischen den beiden Brüdern richtig einschätzte, zumal sie offenkundig auf der Hand lagen.
Nun konnte der ältere Bruder zu diesen Worten nur mit den Schultern leicht zuckend schweigend lächeln. Denn leider konnte er dieser Person, mit der er übrigens sonst nie über die betreffende frühere Angelegenheit gesprochen hatte, nicht ehrlichen Herzens sagen, dass der jüngere Bruder sich (wenigstens) bei ihm für damals richtig und grundehrlich entschuldigt bzw. sich für dessen komplette Schuldübernahme bedankt habe. Und das ist vielleicht das Allertraurigste an dieser ganzen Geschichte!
■ Wenn wir zur Beichte gehen, müssen wir uns da ja ganz ehrlich und schonungslos unserer eigenen Verfehlungen anklagen. Sollten wir aber an unserer entsprechenden Schuld etwas verdrehen, verdecken oder verheimlichen wollen, würden wir mit Gott spielen wollen, was uns niemals durchgehen kann, und eben keine entsprechende Vergebung erhalten.
Im Umgang mit Menschen muss nicht immer jede Kleinigkeit und relative Belanglosigkeit unbedingt zur Sprache gebracht werden. Manche Sachen erledigen sich irgendwie selbst mit der Zeit – man muss auch dem anderen vergeben bzw. die Angelegenheit als solche auch vergessen können! Ecken und stoßen wir ja alle bei den anderen gelegentlich an – Herr, erbarme Dich unser!
Aber es gibt auch etwas schwerwiegendere Angelegenheiten, die niemals einfach so aus der Welt verschwinden, sondern nur durch ein aufrichtiges und vollumfängliches Schuldeingeständnis bzw. durch eine darauffolgende und entsprechend ehrliche Vergebungsbitte aus der Welt geschafft werden können. Denn erst dann kann ja auch die gewünschte Vergebung und somit auch eine echte Versöhnung im Geiste Christi erfolgen! Somit heilt eigentlich nur die betreffende vollumfängliche Ehrlichkeit und aufrichtige Schonungslosigkeit beim Schuldeingeständnis bzw. bei der Vergebungsbitte die entsprechend entstandenen Wunden unserer Seelen!

P. Eugen Rissling

 

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